VORZEIT – Eloge auf Griechenland

Dokumentarfilm, D 2020, 86 min.

Die Gegenwart, glaubt man der Politik und ihren Medien, ist vom Weltuntergang bedroht. Ist es so, verliert der Einzelne, dessen Wohl das Ziel der Gesellschaft ist, seinen Rang. Er ist den Wirkungen der Kriege, der Flüchtlingsströme, des Klimawandels, den Krisen in der Energie- und Finanzwirtschaft, der Kultur- und Deutungskämpfe des Gesundheitswesen und der parlamentarischen Demokratie ausgesetzt, und er wird, als Reaktion darauf, einer Rettungs- und Präventionspolitik unterworfen. Das Recht auf eine Existenz in selbstbestimmter Privatheit zerfällt. Die Daseinssphäre des Konkreten, in der allein jeder Mensch sein Leben bestreitet, verliert gegen die Übermacht des Allgemeinen. Auch Untergang ist immer allgemein. 

Ist aber das nicht das eigentliche Verhängnis? Wird wirklich alles untergehen? Wohl kaum. Gegenwart ist immer das Überlebthaben längst vergessener Untergänge, sonst gäbe es sie nicht. Die Geschichte ganzer Völker und Kulturen ließe sich so betrachten. Was, frage ich mich, bewirkte ihren Fortbestand in einem Danach? Das Große und das Ganze? Eher doch wieder der Einzelne. 

Man muß also, will man den Zusammenhang verstehen, die Perspektive umkehren. Krisen sind keine „Herausforderungen“ an die Gesellschaft, es reicht kaum, etwas mit „Rettungsschirmen“ zu dämpfen, „auf den Weg zu bringen“ oder „Sanktionen“ zu verhängen. Krisen sind immer systemisch. Untergang bedeutet nichts anderes als den Untergang eines Systems. Der Mensch aber ist nie dieses System, sondern nur sein kleinster Gegenstand. Und so ist es auch nie das Abstrakte, sondern immer ein konkretes Ich, das weitermacht. Nur dieses kann sich mit einem anderen Ich verbinden und vergewissern in einem Allgemeinen, das weiter zurückreicht als das, was zum letzten Zusammenbruch führte. Überleben heißt, eine Verbindung herzustellen zu allen, die vor einem überlebt haben. Das vor Augen zu führen, ist die Aufgabe der Kunst. Denn auf die Bewahrung dieser Kontinuität im Jetzt kommt alles an.

In Propaganda, Talkshows oder Twitter hat sie kein Dasein, aber sie ist aufgehoben in Kulturtechniken, die seit Menschengedenken den breitesten gemeinsamen Nenner schaffen für Zusammenleben und Weitermachen: Religion und Glauben, Mythen und Riten, Erinnerung und Tradition. Sie binden individuelle, aber auch kollektive Differenz in Zeichen übergreifender Zugehörigkeit und sind die Antithese zu den Hysterien des Aktuellen und seiner Schrecken. Der Tanz der Gruppe überlebt, auch wenn die Tempel zerfallen.

Daran mußte ich denken, als Griechenland 2015 mit dem Ausschluss aus der EU bedroht wurde. Mit „Hausaufgaben“,„Maßnahmen“ und „Auflagen“ sollte die Finanzkrise, die nicht nur eine griechische war, abgewendet werden, begleitet von einer hämischen Medienkampagne über das, was von den Griechen nach den Maßstäben eines effizienten Kapitalismus übrig geblieben sei: ein Volk von Dieben, Faulenzern und Steuerhinterziehern. Die Empörung des Westens steigerte sich fast zur Weißglut, denn was machten die Griechen? Sie tanzten schon wieder. Warum tanzen sie?

Ich fuhr nach Griechenland. Den Blick dorthin zu wenden, lag für mich nahe genug, nicht nur wegen der Ereignisse, nicht nur, weil die EU, die über Griechenland richtete, sich selbst bereits in der Krise befand, wie sich heute deutlicher zeigt als damals. Der Grund war vielmehr meine persönliche Verbindung zu diesem Land, das ich seit meiner Kindheit immer wieder besucht habe, das als Quelle der abendländischen Kultur meinen Bildungshorizont prägte, das mir in freundlichen und stolzen Menschen begegnete, von denen mir niemand die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg vorgerechnet hatte, so wenig wie die Verachtung, die den Griechen in der öffentlichen Meinung Deutschlands plötzlich entgegen-schlug. Sie hießen mich willkommen und nannten mich Xaris.

Es entstand ein Film, der den Kontrast zwischen wirtschaftlicher Machtpolitik und persönlicher Lebenshaltung, zwischen abstrakter Rechnungslegung und konkreter Alltagspraxis, zwischen dem EU-Parlament und der Dorftaverne zum Thema hatte. Die Reise ging über Athen, die Peloponnes durch die Ägäis nach Kreta. Ich sprach mit unterschiedlichsten Leuten, die in unterschiedlichsten Landschaften und Verhältnissen lebten und versuchte, die Erfahrungen ihres Daseins aufzuzeichnen. 

Dabei zeigte sich: Das Material – Fotofilme, Protokolle, Interviews – dehnte die ursprüngliche Intention, eine jetzt erlebbare Situation zu erfassen, in eine viel größere Dimension aus. Die Frage: Woher kommt dieser Widerstandsgeist ? Was trägt diesen Überlebenswillen?, öffnete einen historischen Tiefenraum, der zwar Griechenland, seine Antike, deren Rezeption und seine Gegenwart einschließt, aber doch 4.000 Jahre zurückreicht und das Entstehen Europas überhaupt in den Focus rückte. Bilder, Dokumente, archäologische Zeugnisse, Gespräche mit Wissenschaftlern und Funde machten aus einer Frage eine Gewißheit: Unser Herkommen und unser Überleben weist auf auf eine ältere als die griechische, auf die minoische Kultur zurück, mithin auf einen ersten europäischen Untergang.

Die Fragen, die sich aus diesem Blickwinkel ergeben und die mein Film-Projekt antreiben, lauten dann: Gibt es in unserer technisierten, digitalisierten, modernen Welt noch einen Rest von archaischer Widerstandskraft, die uns befähigt, in Krisen standzuhalten? Woraus speist sie sich? Und wie läßt sie sich mobilisieren, um zu überwinden, was uns umzubringen scheint?